Peter Thiers: "MINIATUREN"
EPISODE 2
Arthur wühlt durch sein Bücherregal.
MINA Was tust du?
ARTHUR Ich kann mich erinnern, mein Tagebuch zwischen die alten Paperbacks gequetscht zu haben.
MINA Versuchst du immer noch, dich von der Tatsache zu befreien, dass du eine literarische Figur bist?
ARTHUR Wenn du nur hier antanzt, um Exposition zu verteilen, kannst du gleich wieder gehen.
MINA Um mir damit auch deinen verzweifelten Zusammenbruch entgehen zu lassen? Wohl kaum.
Mina setzt sich neben ihn und beginnt, eine Klappstulle zu essen.
ARTHUR Woher hast du auf einmal-
MINA Scheinbar hatte jemand das Gefühl, dass das hier länger dauern würde. Lass dich nicht ablenken, Arthur. Tagebücher! Such!
Arthur wirft achtlos einige Bücher aus dem Regal. Dann zieht er ein altes, schwarzes Notizbuch hervor und öffnet es. Es ist leer, voller unbeschriebener Seiten. Mina sieht ihm über die Schulter.
ARTHUR Das kann nicht-
MINA Hm. Hätte man ahnen können.
ARTHUR Aber ich erinnere mich, in dieses Tagebuch zu schreiben, ich erinnere mich, es in dieses Regal reinzustopfen, ich-
MINA Vielleicht ist es einfach nur Faulheit?
Arthur sieht sie fragend an.
MINA Na, ich bin keine Autorin, aber mir scheint es recht schlüssig, eine Figur wie dich zu schreiben, die tiefgründig wirkt, weil sie ein riesiges Regal voller Bücher besitzt und täglich Tagebuch führt. Aber diese Tagebücher tatsächlich mit Inhalten füllen? Ganz anderes Kaliber. Zumindest was den Arbeitsaufwand betrifft.
Stille.
ARTHUR In diesem Tagebuch war meine Lebensgeschichte.
MINA Kannst du das Pathos vielleicht ein My, nur ein My, zurückfahren? Für dich wirkt das vielleicht hochdramatisch, in Wahrheit ist es lediglich bemüht und schwer zu ertragen.
Mina beißt erneut in das Brot in ihrer Hand. Weiche, ofenwarme Scheiben, denen zwei zwischen Käse gelegte Salatblätter genau die richtige Bissfestigkeit verleihen.
MINA (kauend) Du solltest lernen, im Moment zu leben, mit den Dingen, die dir gegeben werden, und dich in Vergangenheit und Zukunft nicht zu sehr verbeißen. Sei froh, dass du kein Archetyp bist. Du hättest einer dieser verbissenen 60er-Jahre-Männer sein können, das beständige Zentrum deiner vierköpfigen Familie, hart in der Ausführung der eigenen Interessen, aber immer im richtigen Augenblick verletztlich genug, um nicht als vollkommener Bösewicht zu erscheinen - nur um schlussendlich im großen, von Pathos getränkten Moment, der dunklen Nacht deiner Seele, ein faustgroßes Loch in deinem Badezimmerspiegel zu hinterlassen, die Scherben und das Blut zwischen deinen Knöcheln regungslos anzusehen, und in eine düstere, melancholische Stimmung zu verfallen, die gleichzeitig ein Abbild der langsam verfallenden Männlichkeitsideale im späteren zwanzigsten Jahrhundert ist. (Stille.) Stattdessen bist du (sie zögert) eben einfach nur du, Arthur. Hätte schlimmer kommen können.
ARTHUR (zögerlich) Aber - ich will das alles, verstehst du? Minus Spiegel und Scherben, natürlich. Eine Familie. Ein Zuhause für mich. Ist das so falsch?
MINA Sich ein Leben zu wünschen, das man nie haben wird? Falsch nicht, aber fruchtlos. Lern dich zu lieben, als der, der du bist.
ARTHUR Und ich bin der pathetische von uns beiden? Immerhin kommen meine Lebensweisheiten nicht aus einem Abreißkalender für fünfzigjährige Frauen.
MINA Pathetisch oder nicht, glaub mir, unser Autor ist taub für deine selbstbezogenen Wünsche. Und für deine sexistischen Kommentare, mein Lieber, übrigens auch.
ARTHUR Nein, er wird mich hören. Ich werde mir meine Backstory zurückgeben lassen. Fordern werde ich sie.
Mina betrachtet ihn, frustriert vor sich hin kauend.
MINA Von dem Menschen etwas fordern, der dich erschaffen hat - klingt vernünftig. (reicht ihm ihre Reste) Klappstulle?
Ende von Episode 2.